Schutzweste 2.0? Chemiker haben erstmals ein Polymermaterial entwickelt, dessen Bausteine sich mechanisch verzahnen lassen – ähnlich wie die ineinander greifenden Glieder eines Kettenhemdes. Das neue Nanomaterial ist jedoch viel leichter als die metallenen Bausteine und obendrein außergewöhnlich flexibel und robust. Es könnte daher künftig für moderne Schutzkleidung verwendet werden, wie die Forschenden in „Science“ berichten.
Seit den 1980er Jahren ist bekannt, dass kleinere Moleküle nicht nur chemische, sondern auch mechanische Bindungen eingehen können, wenn sich einzelne, oft ringförmige Abschnitte ineinander fädeln. Dadurch wurden winzige molekulare Maschinen möglich, deren Bauteile miteinander verschlungen und verbunden sind, sich aber kontrolliert drehen, zusammenschieben oder auseinander ziehen lassen. Für diese Entdeckung gab es 2016 den Chemie-Nobelpreis.
Seither suchen Chemiker nach einem Weg, um auch größere Polymermoleküle auf diese Weise miteinander zu verzahnen. Sie erhoffen sich davon besondere Materialeigenschaften. Doch bisher ohne Erfolg.
Von X-förmigen Grundbausteinen zum „Kettenhemd“
Jetzt ist es einem Team um Madison Bardot von der Northwestern University gelungen, diese Hürde zu überwinden. Für ihr neuartiges Polymer verwendeten die Chemiker X-förmige Grundbausteine auf Tetraphenylethylen-Basis (TPE-PhOH) und platzierten sie zunächst nebeneinander in einer klar geordneten, kristallinen 3D-Struktur. Dann fügten sie den Kristallen eine weitere Substanz hinzu: Dimethyldichlorsilan (SiMe2Cl2).
Bei der dadurch angestoßenen Reaktion bildeten sich chemische Bindungen zwischen den Enden der benachbarten X-Bausteine des Kristalls aus, sogenannte Siloxanbindungen. Gleichzeitig überlappten sich übereinanderliegende X-Bausteine, so dass diese anschließend schichtweise miteinander verzahnt waren. Gaben die Forschenden das Polymer in ein organisches Lösungsmittel, lösten sich die einzelnen Schichten der ineinander verzahnten Monomere voneinander ab.
Statt eines 3D-Kristalls erhielten die Chemiker so ein zweidimensionales kristall-ähnliches Material. „Wir haben eine völlig neue Polymerstruktur hergestellt“, sagt Seniorautor William Dichtel von der Northwestern University. Welche Eigenschaften dieses Material hat, testeten Bardot und ihre Kollegen anschließend in verschiedenen Experimenten. Zudem betrachteten sie den neu geschaffenen Aufbau unter dem Elektronenmikroskop.
Extrem stabil und dennoch flexibel
Dabei zeigte sich, dass das verzahnte Polymer trotz seiner starren Struktur erstaunlich leicht und flexibel ist. „Der Aufbau ist ähnlich wie bei einem Kettenhemd, bei dem jede der mechanischen Verbindungen ein wenig Freiheit zum Herumschieben hat“, erklärt Dichtel. Dadurch ist das Material robust und flexibel zugleich. „Wenn Sie daran ziehen, kann es die ausgeübte Kraft in mehrere Richtungen ableiten. Und wenn man es auseinanderreißen will, müsste man es an vielen, vielen verschiedenen Stellen zerbrechen“, sagt Dichtel.
Die Mikroskop-Aufnahmen bestätigten dies und enthüllten: Das neuartige Material ist nicht nur das erste mechanisch verzahnte 2D-Polymer, sondern enthält auch die höchste jemals erreichte Dichte mechanischer Bindungen – 100 Billionen Stück pro Quadratzentimeter. Wegen der neuartigen Herstellungstechnik kann das Material auch erstmals problemlos in größeren Mengen hergestellt werden, wie das Team berichtet. Es hat testweise ein halbes Kilogramm davon produziert, geht aber davon aus, dass noch größere Mengen möglich sind.
Neue Art kugelsicherer Westen?
Das Polymer-Material sieht also auf Nanoebene aus wie ein Kettenhemd aus alten Rüstungen, aber kann es auch dessen Funktion erfüllen? Um zu testen, ob es sich als Textilbestandteil für Kleidung nutzen lässt, haben die Chemiker das Material mit Ultem gemischt. Diese extrem robuste Substanz gehört zur gleichen Familie wie Kevlar und hält extremen Temperaturen sowie sauren und ätzenden Chemikalien stand. Das Team um Bardot entwickelte so ein Verbundmaterial aus 97,5 Prozent Ultem-Fasern und 2,5 Prozent Fasern des 2D-Polymers.
Schon dieser geringe Anteil des „Kettenhemd“-Polymers reichte aus, um die Zugfestigkeit von Ultem um 22 Prozent zu erhöhen und es zugleich dehnbarer zu machen. „Wir müssen noch viel mehr Analysen durchführen, aber wir können sagen, dass das Polymer die Festigkeit dieser Verbundwerkstoffe verbessert“, sagt Dichtel. Das Verbundmaterial könnte daher künftig für ultraleichte kugelsichere Schutzwesten oder andere Schutzkleidung verwendet werden, so das Team.
Polymere Kettenstrukturen per 3D-Drucker
Das bestätigt auch eine zweite Studie von Materialwissenschaftlern um Wenjie Zhou vom California Institute of Technology. Sie haben nach dem Prinzip von Bardot und ihren Kollegen verschiedene kettenhemdähnliche Strukturen per 3D-Drucker hergestellt. Die einzelnen Monomer-Bausteine aus dem anfänglichen Kristallgitter verzahnten sich dabei zu verschiedenen symmetrischen Polymer-Konstrukten aus Ringen oder Käfigen (PAMs).
Tests ergaben, dass sich diese Materialien als Reaktion auf Druck- und Dehnkräfte schnell und reversibel verformen lassen. „PAMs zeigen eine bemerkenswerte Fähigkeit, ihre interpartikuläre Anordnung als Reaktion auf äußere Belastungen anzupassen“, schreibt das Team. „Diese Neuanordnung der Partikel führt zu zwei mechanischen Zuständen, die bei allen Deformationsarten auftreten: (i) eine flüssigkeitsähnliche Reaktion mit verschwindendem Schermodul, die mit der relativen Partikelbewegung zusammenhängt, und (ii) eine feststoffähnliche Reaktion, die durch eine Partikeldeformation jenseits des Blockierübergangs gekennzeichnet ist.“
Flüssig und fest zugleich
Demnach führt dieser kettenhemdähnliche Aufbau zu besonderen Materialeigenschaften, die die Konstruktionen zugleich flexibel und robust machen, weil sich das Material je nach Situation und wirkenden Dehnkräften wie eine Flüssigkeit oder ein Feststoff verhält.
Dieses Verhalten könnte künftig für eine ganze Reihe von Anwendungen nützlich sein, von der Softrobotik über die Medizintechnik bis hin zu Schutzkleidung. „Die Kombination aus Formänderungsfähigkeit und Scherverdickungsverhalten könnte beim Bau flexibler Schilde und Rüstungen nützlich sein“, schreiben Sameh Tawfick and Ignacio Arretche von der University of Illinois Urbana-Champaign in einem begleitenden Kommentar. (Science, 2025; doi: 10.1126/science.ads4968 und doi: 10.1126/science.adr9713)
Quelle: Northwestern University